top of page

Interviews und Erfahrungen

Hier findet ihr Interviews von Betroffenen, Therapeuten und Angehörigen.

Viel Spaß!

Hier findet ihr Erfahrungen anderer Betroffener und Angehöriger

Zuvor möchte ich sagen, dass ich niemals die echten Namen der Befragten nenne, außer diese wünschen das ausdrücklich. Deshalb schreibe ich immer "Befragte" bzw. "Befragter".

===================================================================================================================

 

Interview mit einer jungen Frau (22), die an Magersucht erkrankt ist

Sophie: Der schwierigste Teil einer Krankheit ist ja oft erst einmal zu erkennen, dass man überhaupt ein Problem hat. Wodurch wurde dir klar, dass du eine Essstörung haben könntest?

Befragte: Es gab viele Momente in denen ich gemerkt habe, dass sich meine Wahrnehmung und mein Verhalten/Gedanken etc. verändert haben, z.B. als ich an einem Spiegel vorbei lief und mein erster Blick, anders als früher, nicht auf mein Gesicht oder Haare fiel, sondern der Fokus nur auf meinem Bauch und meinen Beinen lag, ob sie schlank aussehen.
Auch als ich stationär wegen der Essstörung in Behandlung war, war ich immer wieder davon überzeugt nur eine “komische Phase“ zu durchlaufen, da ich viel zu dick für eine Essstörung wäre. Bei mir gab es nicht den einen Auslöser, sondern eher viele Momente in denen mir aufs Neue bewusst wurde, dass ich eine Essstörung habe.

S.: Die meisten Patienten erkranken in recht jungen Jahren an der Essstörung. Wie alt warst du, als du (oder andere) erkannt hast, dass du eine Essstörung hast?

B.: Bei mir hat die Essstörung erst mit 19 Jahren angefangen.

S.: Jede Erkrankung beeinträchtigt unsere Lebensqualität. Bei was schränkt die Essstörung dich besonders ein?

B.: Ich fühle mich besonders in meinem Alltag eingeschränkt. Das fängt morgens schon mit der Frage an, ob ich etwas frühstücken sollte oder nicht und wenn ja was und ob ich vorher oder nach dem Frühstück Sport machen sollte.... Aber am meisten hindert mich die Essstörung daran gesund zu werden. An meinen dahinter liegenden Problemen zu arbeiten, weil sie sich immer wieder “schützend“ in dem Vordergrund drängt. Sie isoliert mich von anderen Menschen und hält mich davon ab richtig zu leben.

S.: Freunde und Familie sind ein wichtiger Teil unseres Lebens. Inwiefern hat die Essstörung deine sozialen Kontakte beeinträchtigt bzw. verändert?

B.: Auf meine Familie hatte meine Essstörung keinen großen Einfluss, da sie nichts davon wissen. Für mich waren Besuche bei der Familie allerdings eine Tortur, weil ich meine Erkrankung ständig verstecken musste.
Bei meinen Freunden war es anders. Sie wussten noch vor mir, dass ich ein Problem habe. Sie versuchen Verständnis zu zeigen und für mich da zu sein aber manchmal verstehen sie Einiges nicht oder geben gut gemeinte Ratschläge ab, die nicht wirklich brauchbar sind wodurch ich mich wiederum allein gelassen fühle. Ich sehe auch, dass sie sich phasenweise Sorgen machen. Das belastet mich sehr.

S.: Wo du gerade davon sprichst: Menschen, die nicht viel Erfahrung mit Essstörungen haben, geben in ihrer Hilflosigkeit oft gut gemeinte Ratschläge. Doch wie jeder weiß, ist das Gegenteil von gut, gut gemeint. Was waren die nervigsten oder unpassendsten Kommentare in der Essstörung?

B.: Am nervigsten fand ich es, wenn ich an manchen Tagen körperlich sehr entkräftet war und man mir den tollen Ratschlag gab: "Dann iss doch einfach mal was!". Danke daran habe ich bisher noch gar nicht gedacht.
Von einer Therapeutin in einer Klinik wurde ich ermahnt ich solle mehr essen sonst würde ich raus fliegen. Ich soll nicht versuchen zu essen, ich solls einfach machen. Ich würde es einfach nicht genug wollen.
Aber am besten waren die Sprüche während der Zeit als ich versucht habe wieder zuzunehmen und Sätze fielen wie: "Echt? Sieht man dir gar nicht an dass du ´ne Essstörung hast, du siehst so normal aus!" oder "Ich hab schon Leute gesehen, die waren richtig dünn. Da bist du nichts dagegen.". Solche Sätze spornen natürlich an nochmal eine Schippe drauf zu legen und wieder abzunehmen

Ich wurde in der Pause sogar mal von einer Klassenkameradin angeschrien, weil ich einen Salat gegessen hab und sie schrie nur "Jetzt iss doch endlich mal was Vernünftiges!"

S.:In jeder Genesung gibt es ja Dinge, die dem Einzelnen besser oder weniger helfen. Was hat dir persönlich am meisten geholfen dich von der Essstörung zu distanzieren?

B.: Anfangs vor allem die Mitpatientenen, von denen ich viel Kraft, Verständnis und Ermutigung bekommen habe. Aber irgendwann kommt man an den Punkt, an dem man merkt, dass man es für sich selbst tun muss. Unabhängig davon ob man Zuspruch bekommt oder es den Anderen egal ist. Das ist für mich der schwierigste Teil. Ich habe versucht entgegen meinem Gefühl und meinen Gedanken trotzdem zu essen und zeitgleich in der Therapie über die Dinge gesprochen, die ich über die Jahre unter den Teppich gekehrt habe. Je mehr ich mich meinen Ängsten gestellt und je mehr ich aufgearbeitet habe, desto weniger habe ich die Essstörung gebraucht.

Ich lese gerade zwei Bücher die sehr empfehlenswert sind "Das Kind in dir muss Heimat finden", "Jeder ist beziehungsfähig" (beide geschrieben von Stefanie Stahl)
Ich glaube der Schlüssel ist Selbstliebe und Selbstfürsorge. Das übe ich jeden Tag und das hilft mir am meisten.

S.: Man kann ja gerade in unserem Alter noch fast alles nachholen, was man noch nicht getan hat. Aber was hättest du gerne in den Jahren deiner Essstörung getan, wovon dich die Essstörung abgehalten hat?

B.: Ich hätte ein besseres Abitur gehabt, wäre ich nicht immer wieder in Kliniken gelandet und könnte jetzt vielleicht mein Traumstudium beginnen. Ich wäre in der Therapie vermutlich schon weiter, wäre ich meine Probleme direkt angegangen und eine Beziehung ist auch an ihr zerbrochen. Aber obwohl sie mich viele Tribute gekostet hat, ich habe aus dieser Zeit viel gelernt und Erfahrungen fürs Leben gesammelt. Ich weiß jetzt, wo ich nie wieder hin will und ich weiß, in welche Richtung ich gehen will.

S.: Auch die Zukunft ist für uns junge Menschen ja ein sehr bedeutender Punkt. Was möchtest du in deinem Leben noch erreichen oder erleben, bei dem dir die Essstörung noch im Weg ist?

B.: Ich möchte später unbedingt im sozialen Bereich arbeiten. Am liebsten in einer Psychosomatischen Klinik als psychologische Psychotherapeutin oder ich fände es auch schön tiergestützte Therapie anzubieten und damit Anderen zu helfen. Dafür muss ich aber erstmal selber gesund werden.

S.: Der Weg der Genesung vieler psychischer Erkrankungen ist ein langer und oft sehr steiniger Pfad, voll mit Sackgassen und Fallgruben. Manche sind leichter zu überwinden und andere schwerer. Was ist für dich der schwierigste Part der Genesung?

B.: Das Schwierigste ist für mich auf jeden Fall immer wieder aufs Neue die Entscheidung zu treffen, mich für meine Gesundheit und den neuen Weg zu entscheiden. Es kostet so viel Kraft und es wäre so viel leichter den alten Mustern nachzugeben aber ich weiß wo sie mich hinbringen und dass sie mir nur kurzfristig helfen, aber langfristig alles verschlimmern. Das bloße Wissen reicht aber nicht. Ich muss mich immer wieder für meinen neuen Weg entscheiden und aktiv etwas tun und das ist das Anstrengendste. Denn niemand - auch nicht der beste Therapeut der Welt - kann diesen Weg für mich gehen.

S.: Für jede grundlegende Veränderung in unserem Leben brauchen wir vor allem drei Dinge: Willenskraft, Durchhaltevermögen und Motivation. Die ersten zwei sind jedoch schnell erloschen, wenn die Motivation fehlt. Was ist deine größte Motivation gesund zu werden?

B.: Früher wusste ich nur, was ich alles nicht will. Am Wichtigsten ist es aber, zu wissen was man will, wohin man möchte bzw was für ein Leben man sich wünscht - also positive Ziele.
Ich versuche mich täglich für kurze Momente auf mich zu konzentrieren (diese ruhe auszuhalten war anfangs für mich fast unmöglich, aber es wird besser) und in mich rein zu spüren was ich brauche und wie es mir geht, da ich im Alltag schnell dazu neige mich zu verlieren. In diesen Momenten stelle ich mir auch oft mein inneres Kind vor zu dem ich langsam eine Bindung aufbaue und ich möchte es nicht mehr länger ignorieren und unter den Teppich schieben. Stattdessen will ich mir selbst die Mutter sein, die ich damals gebraucht hätte. Dieses Bild rufe ich mir immer wieder in Erinnerung. Irgendwann möchte ich eine eigene Familie haben. Mit Kindern, die keinen Therapeuten brauchen.

S.: Alles hat ja gute und schlechte Seiten. Oft sagt man ja auch, dass jede Erfahrung uns weiterbringt – als Erfolg oder Lektion. Kannst du rückblickend auch positive Aspekte aus deiner Essstörung ziehen? Wenn ja, welche?

B.: Das auf jeden Fall. Es war nicht alles schlecht.
Durch die Essstörung habe ich erst richtig kochen gelernt und weiß jetzt mehr über gesunde Ernährung. Ich habe viele tolle Menschen in der Klinik kennen gelernt und durch die Essstörung habe ich wieder mit der Therapie begonnen und sehe das erste Mal ein Licht am Horizont. Die Dinge, die ich auf dem Weg der Genesung gelernt habe, kann ich auch auf andere Lebensbereiche anwenden. Sie hat mich aufmerksam gemacht auf viele Problembereiche, die mir vorher absolut nicht bewusst waren.

S.:Viele Erkrankte, die noch keine oder wenig Therapieerfahrung haben fragen sich: gehen sie stationär in eine Klinik oder suchen sie sich „nur“ ambulante Hilfe. Was war für dich persönlich hilfreicher: ambulante Therapie oder Klinik und warum?

B.: Das ist sehr individuell. Je nach dem wie akut die Situation ist in der man sich befindet. Mir persönlich hat der stationäre Aufenthalt akut mehr geholfen. Dort habe ich auf Grund des breiten Settings in kürzerer Zeit mehr Fortschritte gemacht, aber ohne die ambulante Therapie im Anschluss wäre ich vermutlich wieder in ein tiefes Loch gefallen und hätte viel von dem Gelernten nicht so gut umsetzen können.
Wenn die Belastung für einen selbst nicht mehr tragbar wird würde ich immer einen stationären Aufenthalt empfehlen, aber es gibt bestimmt auch Leute, denen eine ambulante Therapie ausreicht.

Vielen Dank der Befragten nocheinmal für ihre Zeit, ihre Offenheit und ihren Mut meine Fragen zu beantworten.

Interview mit einer jungen Frau (22), die an einer Angststörung (sozialer Phobie) erkrankt ist

S.: Der schwierigste Teil einer Krankheit ist ja oft erst einmal zu erkennen, dass man überhaupt ein Problem hat. Wodurch wurde dir klar, dass du eine Angststörung haben könntest?

Jessica: Ich denke es ist über mich hereingebrochen!
Ich war schon immer eher ein zurückhaltender Mensch, immer ein bisschen ängstlich.
Aber als mich die Angst, das erste mal mit voller Wucht körperlich niedergeringt hat und ich meine erste Panikattacke hatte, da wusste ich das irgendwas außer Kontrolle geraten war.

S.: Angststörungen treten ja in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen und Altern auf. Wie alt warst du, als du (oder andere) erkannt hast, dass du eine Angststörung hast?

J.: Ich muss dazu sagen, dass wir (ich und meine Familie) erst ein halbes Jahr später drauf gekommen sind.
Wie gesagt hatte ich meine erste Panikattacke, die war mit 18, dann kamen immer mehr. Irgendwann hatte ich 3 bis 4 Panikattacken in der Woche und bevor irgendetwas psychisches diagnostiziert wurde, wurde erstmal alles körperliche ausgeschlossen. Epilepsie, Tumor, Nervenstörung usw.

S.: Jede Erkrankung beeinträchtigt unsere Lebensqualität. Bei was schränkt die Angststörung dich besonders ein?

J.: Ich denke da muss dazu gesagt werden, dass es viele verschiedene Angststörungen gibt!
Ich hatte eine soziale Phobie, welche mich zum Beispiel extrem im sozialen Bereich eingeschränkt hat. Ich hatte einfach so viel Angst, dass mein Kopf sich die dümmsten Dinge zusammengereimt hat.
Ich bin deshalb nicht mehr in die Berufsschule gegangen, weil ich nicht konnte.
Ich habe so selten wie möglich die Wohnung meiner Eltern verlassen und wenn nicht alleine!
Ich habe mir über alles Sorgen gemacht, so sehr, dass ich in die Selbstverletzung gerutscht bin, einfach um abgelenkt zu sein.
Neben der sozialen Phobie, gibt es noch Ängste wie Zukunftsangst, kennt im gewissen Maße wahrscheinlich jeder. Aber wenn man es nicht mehr kontrollieren kann und man selbst darunter leidet, dann ist die Grenze zur 'Normalität' überschritten.

S.: Freunde und Familie sind ein wichtiger Teil unseres Lebens. Inwiefern hat die Angststörung deine sozialen Kontakte beeinträchtigt bzw. verändert?

J.: Soziale Kontakte ist bei mir ein großes Thema! Damals wie heute auch immernoch. Ich denke da habe ich die größten Einbußen und Fortschritt zugleich gemacht. Ich hatte nie wirklich Freunde oder ein sozials Umfeld, welches ich als Nahestehend bezeichnen würde. Das einzige was mir irgendwie halt gegeben hat war meine Familie.
Ich fand Menschen schon immer sehr kompliziert, konnte sie nie wirklich einschätzen. Irgendwann ist das alles zu viel geworden und Menschen/ der soziale Kontakt an sich ist mir viel zu viel geworden! Für mich, waren Menschen eine Bedrohung, der ich aus dem Weg gehen musste! Um jeden Preis... Also endete dieses Disaster in kompletten Rückzug
Meine Familie hat sehr unter mir gelitten. Wenn das eigene Kind so sehr in sich selbst versinkt und man als Elternteil nichts tun kann.
Geändert hat sich das, als ich meine erste Therapie angefangen habe. Ich hab meine Therapeutin einmal im Monat gesehen, aber das war mehr als die letzen Monate vorher! Der nächste Wendepunkt, war die Klinik! Sechs Wochen in der Schön Klinik Bad Bramstedt (Kann ich wärmstens empfehlen). Dort habe ich mich seit Jahren, das erste Mal verstanden und zugehörig gefühlt.
Der Mensch strebt nach einer Gruppe, nach einen Rudel das ist ein Urinstinkt. Mit den Menschen dort habe ich bis heute Kontakt und das ist jetzt auch schon vier Jahre her.
Kurz darauf bin ich in eine betreute WG nach Kiel gezogen. Das war bis jetzt meine größte Errungenschaft!

S.: Menschen, die nicht viel Erfahrung mit Angststörungen haben, geben in ihrer Hilflosigkeit oft gut gemeinte Ratschläge. Doch wie jeder weiß, ist das Gegenteil von gut, gut gemeint. Was waren die nervigsten oder unpassendsten Kommentare in der Angststörung?

J.: Der Kommentar, der mir bis heute noch den Magen umdreht kam damals tatsächlich von meinen Vater, als ich mitten in meiner ersten Panikattacke steckte.
Es war gut gemeint und er machte sich natürlich Sorgen.
Ich weiß noch, wie er am Türrahmen gelehnt auf mich hinuntergesehen hat und gesagt hat:" Vielleicht solltest du Mal zum Psychologen gehen!" In jeder Situation ein gut gemeinter Rat, aber nicht mitten in einer Panikattacke! Das war das größte No-Go ever!
Ansonsten sind es tatsächlich die kleinen Dinge die einen am meisten verletzen.
Wenn man merkt, dass man auf eine bestimmte Art und Weise angesehen wird und einfach abgelehnt wird, weil man so ist wie man grade nun Mal ist.
Kleine Dinge wie: "Geh doch Mal raus, frische Luft tut dir gut!". "Stell dich nicht so an, Augen zu und durch!"

S.: In jeder Genesung gibt es ja Dinge, die dem Einzelnen besser oder weniger helfen. Was hat dir persönlich am meisten geholfen dich von der Angststörung zu distanzieren?

J.: Entgegengesetztes Handeln!Ein Begriff der auch sehr gerne von Therapeuten benutzt wird, meiner Therapeutin mit eingeschlossen. Und es hört sich einfacher an als es ist! Als erstes muss einem allerdings klar werden, was genau die Probleme sind, ohne das zu wissen,kann es nicht besser werden.Oft läuft man dann auch in Gefahr und kümmert sich um Dinge die gerade gar nicht anstehen.Mir hat einfach das System sehr gut geholfen!
Erkennen wovor dich deine Angst schützen will, herausfinden was du tun kannst um da gegenan zu gehen und dann nach und nach  versuchen es zu ändern (Entgegengesetztes  Handeln) ich wusste was ich tun muss, ich musste es aber auch wirklich tun damit es besser wird.

S.: Man kann ja gerade in unserem Alter noch fast alles nachholen, was man noch nicht getan hat. Aber was hättest du gerne schon getan, wovon dich die Angststörung bisher abgehalten hat?

J.: Ich denke, ich hätte gerne  mehr genossen.
Ganz banal ausgedrückt, alles hat seinen Anfang irgendwo in der Vergangenheit genommen, aber natürlich wusste man das damals nicht. Ich habe damals mit meinen 18 Jahren nicht geahnt, dass ich so hart an mir selbst arbeiten muss, damit ich mein Leben einigermaßen so leben kann wie ich es will. Ich hätte gerne vorher noch die normalen Dinge genossen, wie shoppen, ins Kino gehen, über den Jahrmarkt laufen oder einen Smalltalk halten!
Weil ich, als die Angststörung angefangen hat, eben genau diese Dinge jahrelang nicht tun konnte.
Manchmal sind die Dinge heute auch noch schwer, aber ich weiß, das ich es kann, das ist ein meilenweiter Unterschied zu damals.

S.: Auch die Zukunft ist für uns junge Menschen ja ein sehr bedeutender Punkt. Was möchtest du in deinem Leben noch erreichen oder erleben, bei dem dir die Angststörung noch im Weg ist?

J.: Ausbildung, Beruf, Eine Beziehung, eine Reise, eine eigene Familie!
Ich möchte so viele Dinge erleben, aber Ungeduld war schon immer ein treuer Begleiter von mir!
Aber wenn ich es wirklich beschreiben sollte, möchte ich einfach mein Leben so leben wie ich es möchte.
Natürlich kann ich das jetzt auch in einem gewissen Maße, aber der Moment, wenn ich genau weiß, jetzt hält mich nichts mehr zurück und ich kann endlich weitergehen... Diesen Moment will ich haben.

S.: Der Weg der Genesung vieler psychischer Erkrankungen ist ein langer und oft sehr steiniger Pfad, voll mit Sackgassen und Fallgruben. Manche sind leichter zu überwinden und andere schwerer. Was ist für dich der schwierigste Part der Genesung?

J.: Es zu akzeptieren, dass es besser wird. Das hört sich für Außenstehende vielleicht total blöd an.
Aber wenn man jahrelang in diesem Kreislauf aus Selbsthass, Angst und Panik gefangen ist. Dann ich es unglaublich schwer sich selbst zu erlauben, dass es wieder gut wird.
Weil man in diesem Kreislauf irgendwann angefangen hat, es zu akzeptieren und es als Sicherheit wahrnimmt.

S.: Für jede grundlegende Veränderung in unserem Leben brauchen wir vor allem drei Dinge: Willenskraft, Durchhaltevermögen und Motivation. Die ersten zwei sind jedoch schnell erloschen, wenn die Motivation fehlt. Was ist deine größte Motivation gesund zu werden?

J.: Ich war die meiste Zeit meines Lebens alleine, egal ob nun Menschen um mich herum waren oder nicht, deshalb würde ich sagen: um nicht mehr alleine zu sein. Und damit meine ich nicht, eine Beziehung oder so.
Ich hab es vorher schon einmal erwähnt, aber Menschen streben nach Zugehörigkeit, nach zu Hause, nach einer Gruppe, einem Rudel. Ich möchte den Moment erleben, wenn meine Schultern nicht angespannt sind, wenn ich Menschen um mich herum habe, die ich liebe und am allermeisten möchte ich mich selbst akzeptieren.
Wenn ich nicht gesund werde, werde ich das vielleicht auch erleben, aber nie in diesem gefühlten Ausmaße.

S.: Alles hat ja gute und schlechte Seiten. Oft sagt man ja auch, dass jede Erfahrung uns weiterbringt – als Erfolg oder Lektion. Kannst du rückblickend auch positive Aspekte aus deiner Angststörung ziehen? Wenn ja, welche?

J.: Ja auf jeden Fall!
Tatsächlich finde ich es sehr interessant, wie sehr eine psychische Erkrankung einen Menschen auf persönlicher Ebene beeinträchtigt! Ich weiß, ich reagiere viel sensibler auf meine eigenen Bedürfnisse, viel sensibler auf mein Umfeld und auf meine Mitmenschen. Ich bin aufmerksamer. Hört sich vielleicht nicht nach besonders coolem Zeug an, was man dabei so aufschnappt, aber es bringt irgendwie Ruhe in einen selber. Und die will jeder irgendwie haben.
Ich bin ehrlich sehr froh, dass ich diese Dinge als Ressource sehen kann und dementsprechend auch fühlen kann.
Mich macht es oft wütend und traurig, wie wenig die Menschen sich füreinander interessieren.
Ich bin froh, dass ich kein emotionaler kalter Eisklumpen bin.

S.: Viele Erkrankte, die noch keine oder wenig Therapieerfahrung haben fragen sich: gehen sie stationär in eine Klinik oder suchen sie sich „nur“ ambulante Hilfe. Was war für dich persönlich hilfreicher: ambulante Therapie oder Klinik und warum?

J.:Beides! Beides hat mich mindestens gleich doll geprägt! Es kommt immer drauf an an wen man rankommt.
Vielleicht mag man die Klinik nicht in der man vorher war oder die Therapeutin und entwickelt gegenüber einem eine Abneigung.
Was vollkommen okay ist.
Aber für mich persönlich war das beste an der ganzen Sache, dass es Hand in Hand ging. Ich wusste, das wenn ich in Therapie bin, ich mich auf die Klinik vorbereiten kann!
Klinik ist für mich intensiver, ohne Ablenkung vom Alltag sich mit sich selbst auseinander zu setzen.
Und wenn ich aus der Klinik rausgehe, ich meine Therapeutin habe, mit der ich weiter an den Dingen arbeiten kann.
Die mich auffängt und mir beisteht.

S.: Die vorletzte Frage: Was jemand der jemandem mit Angststörungen (und anderen psychischen Erkrankungen) sehr nahe steht braucht vor Allem eines: Verständnis und Geduld. Beides ist schwierig zu erlangen UND zu behalten wenn man als Außenstehender wenig über die Krankheit weiß. Was ist das Wichtigste, was jemand, der dir sehr nahesteht über die Angststörung wissen muss?

J.: Ja das stimmt, das ist auch ein immer wiederkehrendes Thema bei mir in der Familie.
Ich sage es zwar auch meinen Leuten gerne, aber es gibt Internet, Selbsthilfegruppen, Aufklärungsgruppen.
Dort kann man Fragen stellen und man versucht es verständlich und auf sachlicher Ebene zu erklären.
Allerdings muss von der anderen Seite auch der Wille da sein, sich zu informieren.. der ist bei meiner Familie leider nie da gewesen.
Dort wurde sich immer auf meine emotional verzerrten Erzählungen verlassen.
Aber um es nochmal kurz auszudrücken, KEIN Betroffener SUCHT SICH DAS AUS! Das ist wichtig!
Bei vielen Menschen hört es sich an, als ob man sich dafür entschieden hat!
Man kann eine Angststörung nicht vorher erkennen, sie kommt einfach und dann muss man gucken was man daraus macht..
Es tut weh, wenn man das Gefühl bekommt, dass man sich für sein eigenes Leid entschieden hat, denn kein Mensch entscheidet sich da freiwillig für.

S.: Zu guter Letzt: Ein Sprichwort sagt: „Erfahrung macht den Meister“. Ein bisschen makaber im Bezug auf Krankheiten, aber doch ebenso passend. Der Vorteil ist jedoch, dass man so von den Erfahreneren lernen kann. Was würdest du jemandem, der gerade erst bemerkt hat, dass er/ sie unter Angststörung leidet mit auf den Weg geben wollen?

J.: Keine Panik! Ich weiß es tut weh und es macht Angst. Wahrscheinlich kannst du diese Angst nicht richtig kontrollieren, aber das ist in Ordnung! Oft überschlagen sich die Dinge im Kopf, nach so einer Erkenntnis! Versuch durchzuatmen und dir bewusst zu machen, was du als nächsten zu tun hast! Willst du damit alleine bleiben? Wahrscheinlich nicht oder?
Such dir eine Person der du vertraust und wenn du keine hast, dann versuch dich langsam an Dinge heranzutasten!
Sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht ist nicht einfach und sich Hilfe zu holen noch sehr viel schwieriger.
Aber harte Arbeit wird belohnt, auch wenn du dich um dich selbst kümmerst :)

Vielen Dank an die Befragte für ihre Zeit, ihre Offenheit und ihren Mut dieses Interview zu führen.

Interview mit einer jungen Frau (24) die an Anorexie erkrankt ist

S.: Der schwierigste Teil einer Krankheit ist ja oft erst einmal zu erkennen, dass man überhaupt ein Problem hat. Wodurch wurde dir klar, dass du eine Essstörung haben könntest?

B.: Hmm, ich weiß gar nicht ob ich das an einem Punkt festmachen kann. Ich glaube das war eher ein Prozess mit mehreren kleinen Schritten. Als ich Anfangs einfach weniger gegessen habe, da war das für mich noch lange kein Thema, dass es eine Essstörung sein könnte. Obwohl es sich da -jetzt rückblickend - schon sehr eingefahren hatte dieses Denken. Ich habe dann schnell viel Gewicht verloren, was ich als sehr positiv für mich empfunden habe, obwohl ich auch so „normal“ schon immer untergewichtig war. Wo ich wirklich anfing mir Gedanken zu machen, dass was nicht stimmt, war, als es anfing, mir auch seelisch nicht mehr gut zu gehen und es zum Problem wurde mich mit meiner Familie an den Mittagstisch zu setzten und somit am sozialen Leben teilzunehmen. Ich hatte bis dato zwar Frühstück und Abendessen schon weggelassen, aber das schien mir Anfangs irgendwie nicht „unnormal“ genug, um mir zu signalisieren „Hey, da stimmt was nicht mit dir“. Ich muss vielleicht dazu sagen, dass ich zuvor an einer Colitis erkrankt war, also einer Entzündung verschiedener Darmabschnitte, was mir die Nahrungsaufnahme sehr sehr schwer gemacht hat, da ich sofort heftige Darmprobleme und Schmerzen bekam. Naja, in jedem Fall habe ich mir dann durch mein immer schlechteres mentales Befinden und der Tatsache immer weniger am Leben teilzunehmen über mehrere Wochen oder vielleicht sogar Monate hin, Schritt für Schritt eingestehen müssen, dass ich zumindest ein immer größer werdendes Problem hatte. Einen ausschlaggebenden Part in diesem Prozess hat meine Mama gespielt, sie war diejenige, die das  ausgesprochen hat, was nicht stimmt. Sie hat für mich zum ersten Mal wirklich präsent gemacht, dass ich eine Essstörung haben könnte. Ich glaube nur dadurch habe ich mir dann auch ernsthaft Gedanken über das Essstörungsthema gemacht. Ich selbst habe es immer verdrängt, da in mir immer eine Stimme etwas in der Art „du isst doch was, da hast du ja wohl keine Essstörung“ (auch wenn ich gerade mal einen Apfel am Tag gegessen habe) gesagt hat.

S.: Die meisten Patienten erkranken in recht jungen Jahren an der Essstörung. Wie alt warst du, als du (oder andere) erkannt hast, dass du eine Essstörung hast?

B.: Ich war 22 als alles anfing. Also fast spät im Vergleich zu den anderen Betroffenen, die ich kennengelernt habe

S.: Jede Erkrankung beeinträchtigt unsere Lebensqualität. Bei was schränkt die Essstörung dich besonders ein?

B.: Also plump gesagt - klar - erstmal beim Essen haha. Mich hat es wahnsinnig gestört und ich habe es auch nicht verstanden, warum ich einfach nicht mehr essen konnte. Nicht einfach irgendwas ohne darüber nachzudenken aus dem Kühlschrank zu nehmen und es verdammt nochmal, einfach zu essen! Das ging nicht mehr, ich habe mir rund um die Uhr Gedanken über Essen gemacht und konnte es gleichzeitig nicht essen. Ich empfand das als sehr belastend.
Außerdem hat es mich zunächst auch körperlich eingeschränkt, ich hatte keine Kraft mehr, teilweise überhaupt aus dem Bett zu kommen, geschweige denn an meinem normalen Unialltag zu meistern. Ich habe andauernd gefroren, war unruhig und habe mich zurückgezogen. Schlafprobleme haben mich sehr geplagt. Aber am schlimmsten war die Einschränkung glaube ich in der Zwischenmenschlichkeit, da da diese große Wand des Nicht-Verstehens oder Nicht-Nachvollziehens zwischen mir und v.a.zu Beginn meiner Familie stand. Das hat mich am meisten belastet. Diese sorgenvolle Blicke und ich konnte aber nichts ändern und zu anfangs mich nicht mal erklären, weil ich es selber nicht verstanden habe.
Aber als ich dann selber verstand, was ich für ein Problem habe und ich mich auch aktiv damit auseinandergesetzt habe, statt es zu verdrängen konnte ich meiner Familie auch besser schildern was los ist und wir haben einen gemeinsamen guten Umgang finden können.

S.: Freunde und Familie sind ein wichtiger Teil unseres Lebens. Inwiefern hat die Essstörung deine sozialen Kontakte beeinträchtigt bzw. verändert?

B.: Wie fang ich da jetzt am besten an... Es hat sich definitiv Vieles geändert, aber rückblickend nicht unbedingt zum Schlechten. Klar, ich habe mich während meiner ES (Essstörung) stark isoliert, und es gab auch solche, zu denen ich während der Krankheit eher ein distanziertes Verhältnis hatte, aber einfach aus dem Grund, weil sie nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollten (was ich auch niemals erwartet hätte, v.a.da ich merkte, wie stark belastend das auch für meine Gegenüber war). Aber generell war mein Rückhalt enorm! Auch wenn ich es teilweise sogar eher als unangenehm empfand, weil ich nicht wusste, wie ich es annehmen konnte, aber mir haben so so viele Menschen ihre Hilfe, egal in welcher Art und Weise, angeboten oder gesagt, dass sie immer für mich da seien, wenn ich sie bräuchte. Auch wenn ich darauf eher selten eingegangen bin, weil ich wusste, auf diese Weise kann mir keiner wirklich aus meinem Problem helfen, hat mich das sehr bestärkt! Zu wissen, egal was passiert, da ist wer.
Bei meiner Familie, v.a.bei meinen Eltern, kann ich sogar sagen, dass wir noch nie ein so gutes Verhältnis zueinander hatten, wie seit der ES, weil ich einfach (nach Eingestehen meiner Problematik) mal über alles geredet habe, was mich bedrückt. Das habe ich vorher nie  so wirklich getan.
Jetzt nach der Krankheit gehe ich auch anders mit der Thematik soziale Kontakte um, als zuvor. Das hat aber eher mit dem, was ich als Auslöser meiner ES ansehe zu tun, statt mit der ES selbst.

S.: Menschen, die nicht viel Erfahrung mit Essstörungen haben, geben in ihrer Hilflosigkeit oft gut gemeinte Ratschläge. Doch wie jeder weiß, ist das Gegenteil von gut, gut gemeint. Was waren die nervigsten oder unpassendsten Kommentare in der Essstörung?

B.: Das erste was mir dazu gerade einfällt ist: „Geh doch einfach mal zu McDonalds!“
Sonst beliefen sich die meisten Kommentare darauf, dass ich dann doch wenigstens Kleinigkeiten essen sollte, am besten mehrere über den Tag verteilt. Unter Anderem kam dies von einer Krankenschwester aus der Psychiatrie. „Dann iss doch viele kleine Mahlzeiten, du kannst jetzt doch nicht so viel auf einmal essen, das verträgt dein Magen gar nicht!“ ... nach dem Kommentar war ich sogar echt wütend. Irgendwie aber glaube ich mehr über die Unwissenheit und Unsensibilität gerade in diesem Beruf.

S.: In jeder Genesung gibt es ja Dinge, die dem Einzelnen besser oder weniger helfen. Was hat dir persönlich am meisten geholfen dich von der Essstörung zu distanzieren?

B.: Ich glaube tatsächlich die professionelle Unterstützung in einer Fachklinik und der Austausch mit anderen Betroffenen. Einmal um zu sehen, da sind andere die genauso verrückte Dinge getan haben wie ich, um Gewicht loszuwerden und denen es einfach genauso ging.
Aber im Endeffekt hing meiner Erfahrung nach auch viel von meiner Eigeninitiative ab. Ich wollte unbedingt wieder da raus aus dieser Essstörung. Auch wenn ich häufig nicht wusste wie und nicht selten auch gar nicht mehr wusste, warum und wozu ich das überha upt wollte. Es hat mir immer geholfen vor Augen zu halten, was ich wieder zurückhaben wollte und was mir genommen wurde. Generell haben mir bildliche Vergleiche immer gut geholfen, für alle möglichen Situationen.
Am wichtigsten war für mich aber überhaupt zu erkennen und zu verstehen woher die ES überhaupt gründet. Ich glaub das war dann u.a.auch ein Wendepunkt in meiner Genesung, als ich mir das erklären konnte. Danach musste ich dann die für mich passenden Konsequenzen ziehen.
Also zusammenfassend würde ich sagen, Wille, bewusste Entscheidungen (wenn auch nicht immer oder eigentlich überhaupt gar nicht leicht) und immer ganz ganz viel reden, über alles was einen bedrückt!

S.: Man kann ja gerade in unserem Alter noch fast alles nachholen, was man in der Jugend nicht getan hat. Aber was hättest du gerne in jüngeren Jahren schon getan, wovon dich die Essstörung abgehalten hat?

B.: Da ich vergleichsweise ja einen relativisch kurzen Krankheitsweg mit der ES hatte, kann ich die ES da glaube nicht für Dinge verantwortlich machen, die ich gerne gemacht hätte. Bei meiner Krankheitsgeschichte gibts es noch einige andere Sachen, die mich u.a.schon seit der Geburt begleiten und während meiner Jugend kamen auch noch weitere dazu (rückblickend auch alles Sachen, die die Entstehung meiner ES mit beeinflusst haben), welche ich dann eher dafür verantwortlich machen würde. Aber generell gibt es da wenige Sachen, ich habe schon vieles erleben können und dafür bin ich wirklich dankbar! Was ich mir da jedoch vielleicht gewünscht hätte, dass es leichter gewesen wäre, diese Dinge zu erleben und nicht immer mit gesundheitlichen Einschränkungen.
Wenn ich jetzt wieder zurück zur ES gehe, dann war sie es sogar, die mir für meinen zukünftigen Weg und für das was ich in Zukunft machen will die Augen geöffnet hat. Ich tue mich heute also eher schwer damit, meiner ES den schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben und Sachen nachzutrauern, die sie mir genommen hat, ich bin ihr tatsächlich vielmehr dankbar für das, was sie mir auch gezeigt hat!

S.: Auch die Zukunft ist für uns junge Menschen ja ein sehr bedeutender Punkt. Was möchtest du in deinem Leben noch erreichen oder erleben, bei dem dir die Essstörung noch im Weg ist?

B.: Ich möchte mich endlich Selbst verwirklichen und den Sachen nachgehen, die mir wirklich Spaß bringen! Vor Allem auch beruflich.
Und diese Erkenntnis bzw. den nötigen Mumm dem auch nachzugehen, habe ich nur meiner ES zu verdanken. Ohne sie hätte ich das nicht getan und wäre weiter den sicheren öden Weg in einen Beruf gegangen, den ich eigentlich grausam finde.
Durch sie habe ich erleben können, wie schlecht es einem Menschen eigentlich gehen kann und wieso sollten wir uns ein Leben lang mit Dingen beschäftigen, mit denen es uns eigentlich nicht gut geht? Zeit für die Dinge, mit denen es uns gut geht!
Also zurück zur Frage, im Weg stehen tut sie mir mittlerweile und Gott sei Dank gar nicht mehr. Sie hat mir viel mehr noch weitere neue Interessensgebiete aufgezeigt, die jetzt einen großen Teil meines Lebens ausmachen und mir wahnsinnige Freude bereiten.

S.: Der Weg der Genesung vieler psychischer Erkrankungen ist ein langer und oft sehr steiniger Pfad, voll mit Sackgassen und Fallgruben. Manche sind leichter zu überwinden und andere schwerer. Was ist für dich der schwierigste Part der Genesung?

B.: Gute Frage, nichts von alledem würde ich als “leicht” betiteln. Wie vielleicht schon zu Beginn rauszulesen, ist schon das Eingestehen, dass man an einer psychischen Krankheit leidet nicht wirklich leicht.
In der (ich nenne es jetzt mal) aktiven Genesung war es für mich auch sehr schmerzlich gewesen, an Orte und Stellen in einem Selbst zu gehen, die ich jahrelang, wohl auch unbewusst, gemieden habe. Also die Auseinandersetzung mit sich selbst ist schon schwer. Das dann teilweise in Gruppensitzungen vor anderen zu tun nochmal mehr. Aber es bringt einen auch nur weiter und ich muss sagen, ich war oft von mir selbst überrascht, was ich tatsächlich alles gemacht habe, wo ich eigentlich nie so der Typ für bin/war.
Ein weiterer sehr schwerer Teil ist die körperlich Veränderung, die durch die dringend nötige Gewichtszunahme unvermeidbar passiert. Ich war oft am Boden zerstört und kam phasenweise sehr schlecht damit zurecht. Ich empfand es immer, als würde ich etwas aufgeben, für das ich lange hart gearbeitet habe. Rückblickend ein absolutes Wahndenken, aber nun mal Teil der Erkrankung.
Ich glaube tatsächlich, dass das “Gewicht machen” für mich mit am schwersten war. Es war schlichtweg hart für mich, in diese neuen “Gewichts-Sphären” vorzudringen.

S.: Für jede grundlegende Veränderung in unserem Leben brauchen wir vor allem drei Dinge: Willenskraft, Durchhaltevermögen und Motivation. Die ersten zwei sind jedoch schnell erloschen, wenn die Motivation fehlt. Was ist deine größte Motivation gesund zu werden?

B.: Spaß. Spaß am Leben und Dingen, die mir Freude machen.
Wenn man krank ist macht nichts Spaß und den möchte ich wieder haben. Ich denke da dann meist an starke Momente zurück, in denen ich wirklich glücklich war. Mir hat es dann in den meisten Fällen die Motivation zurückgebracht.

S.: Alles hat ja gute und schlechte Seiten. Oft sagt man ja auch, dass jede Erfahrung uns weiterbringt – als Erfolg oder Lektion. Und du hast ja auch schon viel davon gesprochen, dass die Essstörung für dich auch viel Positives hatte. Was sind diese positiven Punkte rückblickend genau?

B.: Einmal alles was ich lernen konnte über mich selbst und auch Methoden, wie ich besser mit meinen Problemchen umgehen kann. Sowas wie achtsam sein mit sich selbst und auch einfach im Leben achtsamer sein. Es macht einen wirklich großen Unterschied, ob du darauf hörst, was dein Körper dir zu sagen hat oder ob du es übergehst.
Oder zum Beispiel auch zu merken, niemand ist perfekt und das Perfektionismus mir nichts Gutes bringt. Zu lernen gütig und wohlwollend zu mir zu sein. Fehler zulassen.
...Ich glaube ich könnte an der Stelle alles Mögliche aufzählen und ich treffe vom Gefühl her den Nagel nicht zu 100% auf den Kopf.
Das Positive, was die ES zusammengefasst gebracht hat, ist eine generelle Einstellungsänderung, die sich dann logischerweise auf viele Dinge und Bereiche im Leben und auf die Einstellung zum ganzen Leben generell auswirkt.

S.: Viele Erkrankte, die noch keine oder wenig Therapieerfahrung haben fragen sich: gehen sie stationär in eine Klinik oder suchen sie sich „nur“ ambulante Hilfe. Was war für dich persönlich hilfreicher: ambulante Therapie oder Klinik und warum?

B.: Der Klinikaufenthalt! Ich fand es hilfreich dadurch auch einfach komplett aus meinem Umfeld zu “entkommen”. Alles hier zu Hause war für mich irgendwie sehr befangen. Ich konnte mir in meinem zu Hause nicht eingestehen zu essen. Vieles war zu sehr mit schlechten Erinnerungen besetzt und ich bin der Meinung, dass es mir auch zu viel Spielraum zum Mogeln gegeben hätte.
Für mich war es definitiv wichtig rund um die Uhr professionelle Betreuung und vor Allem einen festen Rahmen zu haben!
Wieder ein geregeltes Essverhalten zu entwickeln hätte ich glaube ohne einen solchen Rahmen nicht geschafft. Und erst recht die Zunahme an Gewicht, wäre in meiner akuten Phase glaube nicht gut ambulant durchzusetzen gewesen.

S.: Sooo, noch zwei Fragen: Was jemand der jemandem mit Essstörungen (und anderen psychischen Erkrankungen) sehr nahe steht braucht vor Allem eines: Verständnis und Geduld. Beides ist schwierig zu erlangen UND zu behalten wenn man als Außenstehender wenig über die Krankheit weiß. Was ist das Wichtigste, was jemand, der dir sehr nahesteht über die Magersucht wissen muss?

B.: In meiner persönlichen Situation war mir wichtig, ein grobes Verständnis von dem vermitteln zu können, was da passiert ohne zu erwarten, dass ein wirkliches Verständnis entsteht (das ist glaube auch einfach schwer möglich sowas nachzuvollziehen wenn man es nicht selber mal miterlebt), aber zumindest ein Akzeptieren der Tatsache, dass es so ist, dass ich magersüchtig bin, zu erreichen. Ich wollte auch nicht, dass drum herum geredet wird. Mir half es, dass Leute Bescheid wussten, das hat mir irgendwie eine Last von den Schulter genommen, da ich mich nicht damit verstecken musste.
Generell wichtig zu wissen für Außenstehende, vor Allem solche die einem nahestehen ist es sicher, dass sie leider leider nicht viel machen können bzw. uns Erkrankten da nicht raus helfen können, das können letztendlich nur wir selber. Ich fand dies auch immer wichtig zu vermitteln und als es akzeptiert wurde, dass nur ich selber mir helfen kann, hatte ich das Gefühl, dass es zumindest ein kleines bisschen Erleichterung für alle drum herum geschaffen hat.
Wahrscheinlich hat da aber auch viel meine eigene Bereitschaft, die Lage ändern zu wollen dazu beigetragen.
Aber ja, Akzeptanz ist glaube hier das Schlüsselwort.

S.: Und die letzte Frage: Ein Sprichwort sagt: „Erfahrung macht den Meister“. Ein bisschen makaber im Bezug auf Krankheiten, aber doch ebenso passend. Der Vorteil ist jedoch, dass man so von den Erfahreneren lernen kann. Was würdest du jemandem, der gerade erst bemerkt hat, dass er/ sie unter Magersucht leidet mit auf den Weg geben wollen?

B.: Reden, reden, reden!! Wirklich sich öffnen und über die Situation sprechen und nicht schweigend alles schlimmer werden lassen. Und definitiv professionelle Hilfe holen!
Es ist dabei auch egal, wie lange man schon mit der Magersucht zu tun hat, ob 1 Tag, 1 Monat, 1 Jahr oder wie lang auch immer. Die Dauer deiner Krankheit sagt nichts darüber aus, wie krank du bist oder ob du es “verdienst” dir Hilfe zu holen, dich in eine Klinik einweisen zu lassen, etc. (ich führe das hier nur an, da es mir so ging, bevor ich mich um professionelle Hilfe gekümmert habe und auch bei vielen anderen Erkrankten, die ich kennengelernt habe, dieses Gedankenmuster zu erkennen war).
Fakt ist nämlich, umso schneller du dir Hilfe holst und deinen Genesungsweg einschlägt, umso höher auch die Chancen auf Heilung! Umso länger du wartest, umso eingefahrener werden die essgestörten Gedanken werden und es wird vermutlich weniger leicht sein, diese dann loszuwerden.

Vielen Dank an die Befragte für ihre Zeit, Mut und Offenheit ihre Erfahrungen mit uns zu teilen.

  • Black Facebook Icon
  • Black Twitter Icon
  • Black Instagram Icon
  • Black YouTube Icon

Danke für deine Nachricht.

bottom of page